Inhaltliche Schwerpunkte
Den thematischen Rahmen für das Promotionsprogramm bildet die wechselseitige Beziehung zwischen den menschlichen Weltzugängen, die diskursiv als „Religion“ einerseits und „Wissen“ andererseits bezeichnet werden. Solche Weltzugänge lassen sich in zwischenmenschlicher Kommunikation beobachten. Sowohl im Fall von „Religion“ als auch im Fall von „Wissen“ zeigen sich Tendenzen zur Verstetigung in sozialen Institutionen und in deren materiellen Substraten ebenso wie fluide, schnell veränderliche Formationen.
Dabei geht das Programm davon aus, dass „Religion“ und „Wissen“ nicht streng gegeneinander abgrenzbar sind, sondern dass es sich bei den Bezeichnungen grundsätzlich um Konventionen handelt und dass das als „Religion“ und „Wissen“ Bezeichnete ineinander enthalten sein, sich gegenseitig hervorbringen und sich gegenseitig zum Gegenstand haben kann. In manchen Zusammenhängen wird Religion als Wissen verstanden bzw. als gesellschaftliches Wissen organisiert, während in anderen Zusammenhängen Religion und Wissen in unterschiedlichen Diskursen ausdifferenziert werden, so dass es teilweise zu wechselseitigen Konkurrenzverhältnissen und Deutungskonflikten kommt.
Als Folge der von Arjun Appadurai, Homi Bhabha u. a. beschriebenen zunehmenden Auflösung der Bindung zwischen Kultur und Ort stehen heute in vielen Weltregionen sehr unterschiedliche diskursive Zuordnungen von Religion und Wissen unmittelbar nebeneinander. Davon bisher wenig beeindruckt wird in einem großen Teil der europäischen Wissensdiskurse, auch noch in den sogenannten „postsäkularen“ Diskursen, die Grenzziehung zwischen „Religion“ und „Wissen“ vorwiegend über die „säkulare Unterscheidung“ organisiert, d. h. es dominiert ein Diskurs über „Religion“ und „Wissen“, der eine klare Trennung zwischen einem Bereich der Religion und einem säkularen Bereich unterstellt, wobei die Zuständigkeit für „Wissen“ überwiegend oder ausschließlich letzterem zugewiesen wird. Die „säkulare Unterscheidung“ ist jedoch ihrerseits aus Diskursen über die Zuordnung von Religion und Wissen hervorgegangen und in ihrem Bestand bis heute von diesen abhängig. Sie soll deshalb im Rahmen des Promotionsprogramms immer auch kritisch hinterfragt werden bezüglich ihrer Entstehungsbedingungen und bezogen auf die soziale Funktion, die ihre diskursive Fortführung erfüllt. Aus der Perspektive einer postkolonialen bzw. dekolonialen kritischen Wissenspraxis kommt Religion sowohl als Teil von (kolonialem) Herrschaftswissen als auch als Teil von (antikolonialem) subalternem Wissen in Betracht.
Das Promotionsprogramm möchte Dissertationsvorhaben zur Erforschung und Reflexion der vielfältigen diskursiven Zuordnungen von Wissen und Religion anregen und begleiten. Dabei sollen unterschiedliche perspektivische Zugänge aus verschiedenen Zeiten und Kulturen untersucht werden. Der zeitliche Schwerpunkt des Programms liegt auf der Gegenwart und der jüngeren Vergangenheit seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. In geographischer Hinsicht ist ausdrücklich eine große Breite erwünscht, um die für den Untersuchungszeitraum charakteristische weltweite Verflechtung und Dynamik der diskursiven Zuordnungen von Religion und Wissen in der Arbeitsgruppe angemessen diskutieren zu können.
Theoriekonzepte werden in die Arbeit des Programms grundsätzlich unter dem Aspekt ihrer historisch kontingenten Entstehungsbedingungen und damit auch ihrer kritischen Überprüfbarkeit eingebracht. Daher spielt für die fachbezogene Arbeit des Programms der Aspekt der kritischen Methoden- und Theoriegeschichte eine wichtige Rolle. Das Programm strebt einen kritischen Dialog zwischen hermeneutischen, epistemologischen, textwissenschaftlichen, systemtheoretischen und netzwerktheoretischen Ansätzen an. Dabei ist im Blick zu behalten, dass eine wissenschaftliche Perspektive auf diskursive Verhältnisbestimmungen zwischen Religion und Wissen nicht unabhängig von epistemischen Voraussetzungen eingenommen werden kann, die selbst in den Gegenstandsbereich des Programms gehören.
Die Initiativgruppe für das Promotionsprogramm hat sich zusammengefunden aus dem gemeinsamen Interesse heraus, sich in einem transdisziplinären Verbund der Frage zu widmen, wie aus Religionsdiskursen und Wissensdiskursen heraus das Verhältnis zwischen „Religion“ und „Wissen“ diskursiv bestimmt wird und dabei anhand von Fallbeispielen aus verschiedenen Kulturräumen zu überprüfen, wie weit Begriffsbestimmungen von „Religion“ und „Wissen“ erst durch die Relation zu bzw. die Abgrenzung gegenüber dem jeweils anderen Begriff zustande kommen.
Religion als eher flüchtiger kommunikativer Tatbestand, wie er im Europa der Gegenwart für qualitative empirische Methoden beobachtbar ist, kann daraufhin untersucht werden, wie er im Kontext der Lebenswelt durch ein sinnproduktives Deutungswissen menschliches Verhalten im Alltag orientiert, moralische Ressourcen erschließt und lebensführungspraktisch stabilisierende Stimmungen und Motivationen generiert, aber teilweise auch essentialisierende Wissenskategorien fortschreibt.
Wissenshistorisch ist „Religion“ im Singular in akademischen Wissensordnungen Europas spätestens seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert als eigenständige Wissenskategorie zum Gegenstand von Theologie und Philosophie geworden. Eng damit verbunden war die Ausbildung neuer Methoden der Textanalyse, mit denen zuerst protestantisch-christliche Theologie sich von der Bibel als unbedingter Norm distanzierte und sich in ein historisch-kritisch hinterfragendes Verhältnis zu biblischen Texten setzte. Später wurden diese Methoden zum Vorbild für die Interpretation auch anderer historischer Quellen und literarischer Texte.
Mit der Ausdifferenzierung der philosophischen Fakultäten im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden „Religionen“ im Plural und ihre Geschichte zum Gegenstand von Religions-, Sozial- und Kulturwissenschaften und damit einhergehend zum Gegenstand eines europäischen Blicks auf andere Regionen der Welt.
Dieser europäische Blick hatte in Afrika südlich der Sahara und in einigen anderen Regionen zur Folge, dass kulturelle Systeme, in denen nicht getrennt war, was eine europäische Wahrnehmung als „Religion“ und „Wissen“ zu unterscheiden pflegte, schriftlich durch Außenstehende dokumentiert wurden. Durch den Kontakt mit europäischen Kulturen und Herrschaftssystemen sowie durch christliche Bemühungen um „Mission“ bzw. islamische Bemühungen um „da’wa“ wurden in diesen Regionen neuartige Religionsdynamiken angestoßen und neuartige Institutionen des Wissens formiert. An den südafrikanischen Universitäten, mit denen gemeinsam für eine spätere Phase der Aufbau eines internationalen Graduiertenkollegs geplant ist, werden diese Zusammenhänge unter dem Begriff „indigenous knowledge systems“ untersucht, während sie in Berlin unter dem Aspekt der „transkulturellen Wissenserzeugung“ auf ihre Wechselwirkungen mit europäischer Wissensproduktion hin erforscht werden.
Unter gegenwärtigen Bedingungen sind religiöse Praktiken an vielen Orten der Welt nebeneinander oder miteinander beobachtbar geworden, die in älteren Wissensordnungen streng auf bestimmte „Kulturräume“ verteilt erschienen. So können beispielsweise Diskurse über jüdische und muslimische religiöse Praktiken und ihre Transformation im Kontext von Institutionen der Wissensvermittlung vergleichend in verschiedenen Ländern untersucht werden und die neuen, netzwerkartigen Formen der Wissensorganisation auf ihre Wirkung in neuen Dynamiken des öffentlichen Umgangs mit Religion in traditionell islamisch geprägten Ländern hin befragt werden.
Postkoloniale und dekoloniale Perspektiven der Generierung von Wissen haben zuerst in Regionen wie Lateinamerika, Südafrika oder Südkorea zu Formen kritischer Wissenspraxis in neuen, egalitär konzipierten religiösen Gemeinschaftsformen geführt. Forschungen zur Rezeption solcher Erfahrungen als kritische, selbstreflexive Praxis innerhalb von etablierten Wissenssystemen religiöser Gemeinschaften stehen noch weitgehend aus.